Der Stein - ein Märchen von Lidia Schladt, Januar 2016
In einem fernen Land in einer unterirdischen Höhle war es dunkel und kühl. Doch es blinzelte von oben her tagsüber die Sonne in die Höhle und erhellte sie.
In der Höhle befanden sich etliche Steine, die alle unterschiedliche Farben hatten. Es gab violette Amethyste, grüne und rote Smaragde, grüne Aventurine, rote Rubine, ja sogar goldene Steine lagen in der Höhle und wurden ab und an von den Lichtstrahlen der Sonne erfasst, so dass sie in ihren schönsten Farben um die Wette funkeln konnten.
Und mitten unter ihnen lag auch ein grauer Stein, der ganz anders aussah als die anderen. Zwar hatte er auch ein paar silberne Stellen, die von der Sonne angeleuchtet wurden und dann das Licht absorbierten, doch bei weitem nicht so prächtig, wie die anderen Steine. Das betrübte den grauen Stein und er wünschte sich, ein ebenso prächtiger Rubin oder Smaragd zu sein. Ja, er schämte sich sogar, zwischen all den prachtvollen Edelsteinen zu liegen und fragte sich, welche Bestimmung er hat. Die anderen Steine warfen ihm manchmal verächtliche Blicke zu und ließen ihn still wissen, dass er „anders“ war und sogar farblos. Das machte den grauen Stein sehr traurig und so lag er etwas abseits von den anderen. Dort weinte er häufig, weil er sich mit den anderen verglich. Sie alle schienen ihre Bestimmung und ihren Wert zu kennen. Nur er fühlte sich verloren und ganz und gar nicht wertvoll.
So gingen die Jahre ins Land und der graue Stein hatte die Hoffnung verloren, jemals seine Bestimmung zu erfahren.
Doch eines Tages tauchte ein Bergarbeiter in der Höhle auf und auf einmal strömte ganz viel Licht in die dunkle Höhle, so dass die farbigen Edelsteine in ihren schönsten Farbnuancen funkelten und ihrer Bestimmung entgegen sahen. Endlich würden sie ihre Farben der ganzen Welt zeigen können und freuten sich, ohne auf den grauen Stein zu achten, der weiterhin traurig abseits da lag.
Der Bergarbeiter staunte über die Fülle an Farben und Formen der vielen Steine in der Höhle: „Was für wunderschöne Edelsteine hier liegen. Einer schöner als der andere.“ Dann schaute er zum grauen Stein rüber und seine Augen weiteten sich vor Freude: „Doch am Schönsten bist du!“ Er sah den grauen Stein liebevoll an und dieser konnte es nicht glauben. „Meint er wirklich mich? Hier sind so viele wunderschöne Edelsteine um mich und du meinst MICH?“ Der Bergarbeiter nahm den grauen Stein zärtlich an sich und freute sich über ihn, wie über den wertvollsten Schatz der Welt. Dann verabschiedete er sich von den anderen Edelsteinen in der Höhle, die es nicht verstehen konnten. Wie konnte er sie zurück lassen und stattdessen diesen häßlichen grauen Stein mitnehmen? Der Bergarbeiter schien sie gehört zu haben und sagte ihnen, dass andere Menschen kommen werden und sie ihre Schönheit sehen werden. Dann ging er mit dem grauen Stein davon.
Der graue Stein verstand die Welt nicht mehr, freute sich aber über das Getragen-Werden und Gehalten-Sein in der großen, kräftigen Hand des Bergarbeiters. In seinem Haus gab es eine Werkstatt, in die der Bergarbeiter den grauen Stein brachte und ihn voller Bewunderung anschaute. Der Stein fragte sich immer noch, ob er wirklich ihn meinte. Doch gerne erwiderte er das Lächeln des Bergarbeiters und gab sich hin, während der junge Mann begann, den grauen Stein zärtlich, feinfühlig und achtsam zu schleifen. Er wußte offenbar viel von seinem Handwerk und der graue Stein war so entspannt von der Melodie des liebevollen Schleifens, dass er dabei einschlief.
Als der graue Stein am nächsten Morgen aufwachte und das Licht der Sonne in die Werkstatt reinschien, fühlte er sich wie neu geboren. Als ob er jahrelang geschlafen hätte und nun erwacht sei. Er sah an sich herunter und war völlig überwältigt: Er war nicht mehr grau, sondern kristallklar, hell und funkelte in allen Farben des Regenbogens im Licht der Sonne. Das berührte den Stein so sehr, dass er anfing zu weinen. Diesmal aus reiner Freude heraus und weinte sich all die Traurigkeit der vergangenen Jahre von der Seele.
Auf einmal kannte der Stein seine Bestimmung, an deren Erfüllung er nicht mehr geglaubt hat. Der Bergarbeiter kam in die lichtdurchflutete Werkstatt und lachte vor Freude über den Anblick des nun nicht mehr grauen Steines. Zum ersten Mal hörte der Stein seinen wahren Namen aus seinem Munde: „Du wunderschöner Diamant!“